Mittwoch, 29. Januar 2014

Eine Familiengeschichte

Nach sieben Tagen ist der erste Teil unseres Projektes vorbei. Doch die intensiven Begegnungen und Gespräche mit den Zeitzeugen beschäftigen die jungen Journalist/innen noch immer. Die gehörten Geschichten veranlassen sie dazu, ihre eigenen Familiengeschichten zu reflektieren. So auch Agata Wojcieszak aus Köln, bei der die Woche in Oswiecim/ Auschwitz die Erinnerungen an ihre Großmutter wach werden ließ.

Von Agata Wojcieszak
"Zum Ende: ein bisschen Kitsch"
 
Heute auf der Rückreise von Oświęcim nach Köln kamen mir die Geschichten von Frau Krystyna Budnicka, Frau Zdzisława Włodarczyk, Frau Janina Dzemyanets, Herrn Ignacy Golik und Herrn Jacek Zieleniewicz in Erinnerung. Und irgendwann mischte sich unter diese Erinnerung die Geschichte meiner Oma, die Geschichte, die sie, Genowefa Trędewicz, immer und immer wieder erzählte, war diese hier: Im Alter von 16 Jahren wurde sie von Thorn (Torun) nach Stettin (Szczecin) deportiert, um als Zwangsarbeiterin in einer deutschen Gärtnerei zu arbeiten. Dort verliebte sie sich in Ferdinand, den Sohn der Gärtners, den Feind.
Als meine Mutter nach einer wiederholten Erzählung dieser Liebesgeschichte nachhakte, ob es meiner Oma während dieser Zeit vielleicht auch mal nicht so gut gegangen sei, ob sie nicht auch mal geschlagen wurde, entgegnete meine Oma: "Geschlagen? Ah, in den Arm genommen hat er mich."
Nach all dem, was wir in den letzten Tagen gehört habe, denke ich mir nun: Was für eine kitschige Version von ihren Erfahrungen während des zweiten Weltkriegs hat sie da eigentlich zusammengereimt? Möglich, dass sie sich tatsächlich verliebt hatte. Dennoch lebte sie während des Zweiten Weltkriegs  in einer Stadt, in die man sie, ein junges Mädchen, alleine deportiert hatte. Dass Hitlerfahnen  überall in der Stadt hingen, das hatte sie dann doch mal kurz erwähnt. Und meiner Mutter erzählte sie irgendwann, dass ihr manchmal sehr kalt gewesen war, dass sie auch mal Läuse hatte. Später dann wurde meine Oma, weil sie besonders schnell Deutsch gelernt hatte, auf der Post als Übersetzerin eingesetzt. Doch, abgesehen von diesen wenigen Informationen, weiß ich nichts. So gut wie nichts weiß ich von meiner Oma, die mir sehr nahe stand, mit der ich Weihnachten feierte, die bei mir, als ich noch ein Kleinkind war, den ersten Zahn fand und die versucht hatte, mir das Krabbeln beizubringen (leider ohne Erfolg).
Und dann denke ich, dass diese kleine, ein bisschen kitschige Erinnerung womöglich wichtig ist. Nicht nur wichtig für unsere Familie, der sie sie erzählte, sondern auch wichtig für sie. Denn die Alternative zu ein bisschen Kitsch wären Verachtung oder Hass gewesen. Und die beiden führen zu nichts Gutem, sie schaden auch immer demjenigen, der hasst oder verachtet. Also bleibt nur ein bisschen Kitsch.
Die schrecklichen Erinnerungen, die meine Oma auch gehabt haben musste, behielt sie für sich. Und es war nicht ihre Aufgabe, sie mir, sie uns mitzuteilen. Die Aufgabe, an die Gräueln, die Verbrechen, zu erinnern, kommt der Politik, den Schulen, den Medien und der Gesellschaft zu. Zeitzeugen, die bereit sind sich öffentlich an das Grausame zu erinnern, gebührt deswegen hoher Respekt. Die fünf oben genannten haben ihre Geschichten mit uns geteilt - stellvertretend für die, die es nicht können oder wollen. Aber auch die fünf haben ihre kleinen kitschigen Einschübe. Und wahrscheinlich brauchen auch sie sie, vor allem aber brauchen wir sie. Denn ohne Sätze von Herrn Zieleniewicz wie "Ich habe viele Deutsche Freunde. Ihr seid meine Freunde" oder ohne das Strahlen von Frau Budnicka wäre unser Treffen kaum möglich gewesen.

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