Dienstag, 28. Januar 2014

"Die Ästhetik des Gedenkens"

Von Anne-Sophie Lang
Foto: Anne-Sophie Lang
„I need this picture“, ruft der Junge, „'cos I wanna post it“. Er braucht das Bild, weil er es ins Internet stellen will. Am Ende der Eisenbahnschienen, die ins schneebedeckte ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau führen, steht die Figur, die er fotografieren will. Zwei aus Draht geformte Silhouetten, die eine rote Rose halten. Der Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, klingt US-amerikanisch. Der Enkel oder Urenkel eines emigrierten Überlebenden? Er hält sein Smartphone vor die Rose, schießt ein Foto. Und rennt davon, seinen Eltern hinterher. Ihm ist kalt. Die Temperatur liegt zweistellig unter null.

Die Gedenkfeier am 69. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz ist da schon vorbei. Das jüdische Gebet Kaddisch ist verklungen, das große weiße Zelt auf dem Gelände des ehemaligen Lagers verwaist. Klavier- und Geigenmusik ist dort gespielt worden, Überlebende und Politiker haben Reden gehalten, unter ihnen der israelische Publizist Noah Klieger. Er durchlitt Auschwitz, Dora-Mittelbau, Ravensbrück und einen der Todesmärsche. Von diesem Marsch hat er gesprochen. Im Hintergrund haben zehn Bildschirme wechselnde Gesichter gezeigt. Ein kleines Mädchen mit Schleife auf dem Kopf, einen alten Mann mit Hut und Bart, stellvertretend für die anderthalb Millionen Auschwitz-Opfer. „Wir sahen wie Schatten aus“, hat Klieger erzählt. „Keine menschlichen Wesen mehr.“
Die Menschen, die jetzt, nach den Feierlichkeiten, in Strömen zurück zum Eingangstor marschieren, sind keine Schatten, sondern sehr lebendig. Sie werden sich gleich aufwärmen, sie werden etwas essen. Zurück im Lager, wo der Grund die Asche Hunderttausender Verbrannter in sich trägt, werden Kerzen, Kränze und Blumen bleiben. Und im Internet das Foto eines fröhlichen, sorglosen Jungens, das durch seine Symmetrie und seine Farben besticht. Jenem Jungen scheint die Ästhetik des Gedenkens mehr zu sagen als das Leid, dem gedacht wird. Sollte das beruhigen oder beunruhigen? Auf jeden Fall kann es für vieles stehen. Für den Sieg der Überlebenden. Und für die Frage nach der Zukunft des Gedenkens.

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